Individuen als AgentInnen und Archetypen
Seit Adolphe Quetelet existieren – trotz scheinbar strenger Trennung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, Ansätze, die unter der Bezeichnung „soziale Physik“ versuchen, Beobachtungen, Regeln und Verhaltensweisen die der Physik entnommen werden, auf Gesellschaftssysteme im Ganzen (bzw. komplexe Systeme) umzulegen, also systemtheoretisch zu deuten. Es werden hier Analogieschlüsse gezogen, die Verhalten zumindest beschreiben können. Jedes System durchläuft dabei verschiedene Zustände die sich in ihrer Komplexität und daher in ihre Determiniertheit, Einfachheit und Überschaubarkeit deutlich voneinander unterscheiden. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf Entscheidungssituationen – in sozialen Systemen – denen sich Individuen stellen müssen.
Die sozioökonomische Physik bzw. die „Physik der menschlichen Gesellschaft“, bezeichnet die „Teilchen“ eines Systems als „AgentInnen“, die sich als Gesamtes in unterschiedlichen (Aggregats-)Zuständen befinden können: Was in der Umgebung passiert, welche Komponenten einwirken ist dabei ausschlaggebend dafür, in welchem Zustand sich das System und somit die Individuen befinden können. Grundlegende Parallele zwischen Teilchen und AgentInnen ist, dass sie mindestens drei Eigenschaften haben können: sie ziehen sich an, stoßen sich ab, oder sind sich egal. Die Übergänge von einem Zustand in den anderen können durch unterschiedliche Einwirkungen von Außen zum Übergang gezwungen werden. In der Physik etwa durch Beeinflussung der Temperatur, des Drucks und der Dichte, in der Gesellschaft sind es die Bedingungen, die Leben ermöglichen und organisieren: Steuerung und Regelung der Grundbedürfnisse die sich grob über die Bereiche Politik, Soziales, Bildung, Kultur sowie Wirtschaft regeln. Nimmt jedoch eine dieser Komponenten (z.B. die Wirtschaft) die Macht über alle anderen ein und überträgt ihre Regeln und Steuermechanismen auf alle anderen Bereiche, wird es – rein physikalisch interpretiert – zu einem Übergang, einer Veränderung und einem Umbruch kommen müssen.
Einerseits interessieren uns als Theater KreisQuadratur die Übergänge, andererseits die zunehmende Gleichgültigkeit Aller gegenüber Allen. Deshalb sind die Fragen, wie es zu einem Übergang kommt und die Frage nach der freiwilligen, selbstinduzierten Isolation für uns im Zentrum. Wir befinden uns als System im dauerhaften Ausnahmezustand, immer an der Grenze, bzw. mit dem Horizont des „Vergehens“ konfrontiert. Doch an welchem Übergang befinden wir uns jetzt in der Gegenwart? Haben wir den „kritischen Punkt“ längst überschritten, oder steht uns diese Überschreitung noch bevor?
Wir ziehen also nochmals eine Analogie, die die Komplexität des individuellen und kollektiven Lebens thematisieren soll. Die „Absurdität des Realen“ in der wir absolut vernetzt sind, so viel über die einzelnen Komponenten des Systems wissen, und doch keine Solidarität, keine Kollektivität entstehen lassen können – das direkte Gespräch, die face-to-face Situation ist beinahe schon eine Außergewöhnliche und stellt zunehmend eine Barriere dar – die direkte Konfrontation wird zur unbequemen Herausforderung für das Individuum.
Der ständige Versuch Komplexität (scheinbar) zu reduzieren, kippt in sein Gegenteil – wir denken, dass dafür Isolation/scheinbare Zugehörigkeit, Vermassung (Normierung)/Vereinzelung (pathologisierte Zustände wie Depressionen, Schizophrenie, Psychosen) der Menschen eine große Rolle spielen und diese Komponenten sind in einem System, in dem Kommunikation und Bedürfnisse die größtmögliche Erfassung der „AgentInnen“ und ihrer Eigenschaften erlaubt, steuerbar. Schon längst wissen wir, dass es nicht vernünftige Gründe sind, warum wir Entscheidungen treffen. In der Gegenwart spüren wir es.